
Metabolische Chirurgie am Adipositaszentrum des KRH Klinikum Nordstadt: Die Operation erfolgt in Schlüssellochtechnik, sie dauert 30 bis 45 Minuten.
Nicht ein paar, sondern viel zu viele Kilos auf der Waage? Bei krankhaftem Übergewicht kann metabolische Chirurgie den Startschuss in ein neues Leben bedeuten. Doch auch die Patienten sind gefordert.
Es gibt Momente, da will Chefarzt Prof. Dr. Julian Mall es genau wissen. „Einmal habe ich mir einen 40 Kilo schweren Rucksack aufgesetzt und bin damit stundenlang herumgelaufen. Es war sehr anstrengend. Wie sollen sich erst Menschen fühlen, die 60 oder 80 Kilogramm zu viel wiegen?“ Ein anderes Mal hat er eine Klasse von Schülern gebeten, ihre Brotdosen zu zeigen. „In einem Drittel befanden sich ausschließlich Süßigkeiten.“
Ob Kinder, Jugendliche, Erwachsene – ein hoher Anteil aller Altersgruppen ist zu dick. Adipositas ist definiert als massives Übergewicht. Jeder kann es sich selbst ausrechnen. Eine Infobroschüre vom Adipositaszentrum, das sich im KRH Klinikum Nordstadt befindet, nennt ein Beispiel: Ein Körpergewicht von 120 Kilogramm geteilt durch die mit sich selbst multiplizierte Körpergröße von 1,82 Meter ergibt einen Body-Mass-Index (BMI) von 36,2 kg/m². Alle Werte, die über einem BMI von 30 liegen, stehen für Adipositas. Damit einher gehen oftmals Folgeerkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck, gefährliche Atemaussetzer im Schlaf, häufiger auftretende Krebserkrankungen oder auch Gelenkprobleme.
Prof. Julian Mall, Chefarzt für Allgemein-, Viszeral-, Gefäß und Adipositaschirurgie: „Etwa 1,4 Millionen Deutsche haben einen BMI von über 40.“ Er ist nahezu täglich mit sehr übergewichtigen Patientinnen und Patienten konfrontiert – und tut sie nicht als schwache oder bemitleidenswerte Menschen ab (eine Erfahrung, die sie fast täglich machen), sondern unterstreicht, dass diese Hilfesuchenden unter einer anerkannten chronischen Erkrankung leiden. Was seine Gesprächspartner eint, ist die Tatsache, dass essen kein Genuss mehr für sie ist oder dass sie regelmäßig über diese Grenze hinausgehen. Sabine Bachmann ist Psychologin, die aus vielen Gesprächen weiß: „Einige Patienten können ihr Essverhalten nicht mehr steuern. Sie selbst spüren den Kontrollverlust.“
Nach OP weniger Hunger
Das Angebot des KRH Adipositasreferenzzentrums sind metabolische Operationen, die den Stoffwechsel der übergewichtigen Patienten nach der Operation beeinflussen: Besonders häufig genutzte Verfahren sind Magenschlauch oder Magenbypass. Bei erstgenannter Operation wird ein Teil des Magens entfernt, zwischen Speiseröhre und Zwölffingerdarm bleibt nur ein Schlauch als Verbindung. Nahrung kann deshalb nur noch in kleinen Mengen aufgenommen werden. Begünstigend wirkt auch, dass in dem entfernten Teil des Magens das sogenannte Hungerhormon Ghrelin gebildet wird, das heißt in der Regel verspürt der Patient oder die Patientin unmittelbar nach der Operation ein deutlich geringeres Hungergefühl.
Der Magenbypass kombiniert zwei Maßnahmen: Er besteht aus einer Verkleinerung des Magens, außerdem wird ein Umweg zum Dünndarm angelegt. Die Folge ist, dass nunmehr weniger Darmfläche zur Energieaufnahme vorhanden ist. Große Schnitte sind bei diesen Eingriffen nicht notwendig, sie werden in Schlüssellochtechnik durchgeführt. Sie können eine wirksame Lösung sein, wenn bei Betroffenen der BMI bei 40 oder mehr liegt, bei anderen gilt ein BMI von 35 als Schwelle, wenn sie außerdem an Folgeerkrankungen leiden. Doch die OP steht als Maßnahme nicht für sich selbst, wer sich zu diesem Schritt entschließt, wird psychologisch begutachtet sowie von Internisten und Endokrinologen untersucht. Ganz wichtig ist auch die Ernährungsberatung rund um den Eingriff, ebenso die regelmäßige Nachsorge im Adipositasreferenzzentrum.
„Etwa ein Drittel der Patientinnen und Patienten kommt hierher auf Vorschlag eines niedergelassenen Arztes, weil beispielsweise ihr Diabetes oder Bluthochdruck medikamentös nicht mehr gut einzustellen ist. Andere haben etwa ernsthafte Knieprobleme und können sich nicht mehr gut bewegen“, erläutert Prof. Julian Mall. Eine metabolische Operation empfiehlt sich bei entsprechendem BMI, wenn eine Ernährungsumstellung und Bewegung keine signifikanten Effekte zeigen. „Wenn jemand 160 Kilogramm wiegt, dann bewirkt Wassergymnastik auch nicht mehr viel“, so Mall – falls derjenige überhaupt zu solchen Übungen in der Lage ist.
Wieder beweglich sein
Zwei Drittel der adipösen Menschen, die deswegen in seine Sprechstunde oder zu seinen Informationsveranstaltungen kommen, tun dies aus eigenem Antrieb. Denn sie sind nicht nur schwer, sie haben es auch schwer. „Schätzungsweise 30 bis 40 Prozent sind depressiv gestimmt“, berichtet Sabine Bachmann. Sie wollen ihre Selbstständigkeit erhalten, Teilhabe am Leben, wollen mobil sein. Die Psychologin weiß: „Für einige ist auch Triebfeder, dass sie Kinder haben. Eltern wollen für ihre Kinder da sein und auch etwas mit ihnen unternehmen können.“
Motivation ist wichtig
Das Durchschnittsalter der Patienten liegt bei etwa 40 Jahren, aber Prof. Mall hat auch schon Menschen über 70 operiert. Da stand die Furcht im Raum, zum Pflegefall zu werden, der permanent auf Unterstützung im Alltag angewiesen ist. Während der Corona-Pandemie ist die Zahl der bariatrischen Eingriffe zurückgegangen, Krankenhäuser müssen Ressourcen für Covid-19-Erkrankte aufsparen. Doch im Jahr zuvor hatten sich an die 350 Männer und Frauen wegen hrer Adipositas operieren lassen. Die Erfolge sind signifikant. Bei entsprechender Lebensführung verringert sich das Übergewicht anschließend um 60 Prozent. Zum veränderten Essverhalten gehört, sich gesund und maßvoll zu ernähren, sich bewusst zu sein, „dass ein Glas Apfelsaft genauso viele Kalorien hat wie ein Glas Cola“, wie Prof. Julian Mall betont. Sinnvoll sind auch sportliche Aktivitäten, am besten zwei bis drei Stunden pro Woche.
Im Idealfall fängt für die Patienten ein neues Leben an. So wie bei Kristoffer Schich, der 110 Kilo abgenommen hat. „Mich operieren zu lassen war die beste Entscheidung meines Lebens“, sagt er heute. Dennoch machen der Chefarzt und auch Psychologin Sabine Bachmann keinen Hehl daraus, dass der Patient durch Eigenverantwortung und Motivation einen hohen Anteil am Behandlungserfolg hat. Prof. Mall: „Es geht darum, Gewohnheiten zu ändern. Ein anderes Essverhalten muss umsetzbar sein und zum Leben passen.“ Damit dies glückt, „braucht es Zeit und Wiederholung“, ergänzt Sabine Bachmann.
Auch nach reibungsloser Operation und Gewichtsabnahme gelte es, ganz individuell herauszufinden, was einem guttut. „Man muss sich auf andere Weise pflegen“, betont die Psychologin. Wer interessiert ist an einer bariatrischen Operation, aber zögert, weil er künftig auf Genuss nicht verzichten möchte, dem sagt Prof. Julian Mall: „Keine Sorge. Gehen Sie in ein schönes Restaurant. Sie dürfen auch in Zukunft sehr gut essen. Nur die Portionsgröße wird sich ändern.“
Mir steht die Welt wieder offen
Kristoffer Schich wiegt heute weniger als die Hälfte von früher. Dies ist das Ergebnis einer Magenverkleinerung – und eines deutlich veränderten Lebensstils. Hier erzählt der 30-Jährige seine Geschichte.
„Ich bin 1,85 Meter groß. Am Tag meiner Operation vor gut einem Jahr hatte ich mein persönliches Höchstgewicht: 196 Kilo wog ich damals. Während der Kindheit bin ich nicht dick gewesen, zugelegt habe ich dann während der Pubertät. Dazu kamen Jobs, in denen ich unregelmäßig gegessen habe, und danach meine Tätigkeit für einen Pizzadienst. Dort durfte ich mich umsonst verköstigen. Dann habe ich eine Ausbildung als Berufskraftfahrer gemacht, da entsprach ich inzwischen dem Klischee, dass Lkw-Fahrer meistens dick sind. Mit meinem Gewicht ging es ständig nach oben. Inzwischen weiß ich, dass ich mich jahrelang falsch ernährt habe: Fast Food, Döner, fettig, deftig – von allem zu viel – und dazu Limo und Cola. Irgendwann war ich mit meinem Erscheinungsbild nicht mehr glücklich, das hatte auch mit flapsigen Kommentaren zu tun. Wenn ich mich angelehnt habe auf einer Party, hieß es: „Pass auf, dass die Wand nicht umkippt.“ Menschen, die so etwas sagen, wissen nicht, wie frustrierend Diäten für Übergewichtige sein können. Erst hat man Erfolg, dann kommt schnell der Jo-Jo-Effekt. Und bei dicken Personen bedeutet das fünf oder gar zehn Kilo mehr als vorher. Auch bei einem Mitarbeitergespräch wurde mir gesagt, man würde sich um meine Gesundheit sorgen. Ich hatte bereits einmal eine Ernährungsberatung bei der Krankenkasse gemacht und einen Arzttermin, bei dem es um eine eventuelle Magenverkleinerung ging. Aber richtig gut aufgehoben gefühlt habe ich mich im KRH Adipositaszentrum: Dort verfolgt man ein Gesamtkonzept, ich wurde sehr genau untersucht, die Ernährungsberatung findet vor und nach dem Eingriff statt. Mich betreuen regelmäßig Ärzte und Physiotherapeuten. Seit ich operiert wurde, esse ich anders. Ich achte auf viel Eiweiß, esse Gemüse und Obst. Burger sind für mich tabu. Jetzt bin ich fit: Zu meiner vorigen Nachsorgeuntersuchung bin ich von Nienburg nach Hannover und zurück mit dem Rad gefahren. Das sind pro Strecke 55 Kilometer. 84,5 Kilo wiege ich aktuell. Mir steht die Welt wieder offen – das ist ein richtig gutes Gefühl.“